(Rückblick: Ein Newsletter mitten aus der Pandemie)
Ich habe mich in der Schockstarre erlebt. Im Nichtwahrhaben. Im Verdrängen. In der Angst. Im Zweifel. In der Rebellion. In der Trauer. Im Gute-Miene-zum-bösen-Spiel-machen. Im Nicht-Hinhören. Im Kontrolle abgeben. Im Allein-Sein.
Pause.
Dann zwang mich etwas in die Knie und ich setzte mich hin, um zuzuhören. Wie die Morgendämmerung, in der ich jetzt grade sitze, kamen Mitgefühl, Liebe, Staunen, und Dankbarkeit auf. Mitgefühl für alle verwirrten Telefonanrufe, Posts, Nachrichten und der inflationären Masse an Informationen. Ich begann zu Staunen über die Natur, die ich jeden Tag durch's Fenster sehen, riechen und plötzlich hören konnte. Und dann kam wieder der Zweifel. Darf ich überhaupt pure Freude empfinden am weissen Anemonen-Teppich, der meine Waldlaufstrecke säumt oder an meinen Nachbarn, die nun vor meinem Zimmer ein wöchentliches Kammerkonzert im Hof geben (mit Profi-Besetzung)?
Noch nie konnte ich mich so intensiv wahrnehmen, wie ich "ticke", was mich ausmacht, wie ich lebe, wer ich bin. Denn der Lock-Down, das "Eingesperrtsein" (neu auch mit Mundschutz), das Social Distancing - die Ungewissheit fühlt sich an, wie die Orientierungslosigkeit in der Wüste - die ich liebe.
Was soll ich lesen, wem soll ich zuhören, was soll ich glauben, was soll ich denken - was ist richtig, was ist falsch? Was ist die Wahrheit? Wo ist die "wahre Quelle"? (Übrigens, dies kann Dir schon mal passieren, dass Dir Dein Sitznachbar im Flieger zurück von Indien diese Frage stellt: "Hast Du die Wahrheit gefunden?")
Nun, eine unbekannte Stimme meinte einmal: "Deine Lebensqualität ist direkt proportional zu der Menge an Ungewissheit, mit der Du problemlos zurecht kommen kannst."
Was bedeutet dies? Dass die Möglichkeit besteht, dass die Antwort auf all unsere Fragen nach der Wahrheit womöglich nicht in der Zeitung, im Radio, im Fernsehen, in einer Messe und vielleicht auch nicht einmal in einem Yoga Retreat zu finden ist.
"Die Wahrheit", so Krishnamurti, "ist ein pfadloses Land. Kein Führer, kein Gesetz, keine Überlieferung wird Dich zu ihr bringen. Nur Deine ständige intelligente Wachheit."
Auf tibetisch bedeutet ye tang che "völlig erschöpft". Oder "die Nase endgültig voll haben". Gemeint ist die Erfahrung völliger Hoffnungslosigkeit. Hoffnungslosigkeit, wenn ich alle siebzehntausend Posts gelesen habe und immer noch weiss, dass ich nichts weiss. Ein wichtiger (Wende-)Punkt. Es ist, laut Pema Chödrön, der Anfang vom Anfang. Ohne die Hoffnung aufzugeben, dass es irgendwo besser ist, werden wir niemals akzeptieren, wo wir sind. Zu glauben, irgendwann würden wir schon alles auf die Reihe kriegen, ist unrealistisch. Nach dauerhafter Sicherheit zu streben ist vergeblich. Statt nun das Gefühl zu bekommen, wir seien dumm oder jemand meint es schlecht mit uns, haben wir die Freiheit, einfach mal präsent zu sein. Ungeschützt und nicht wissend, was zu tun ist. Einfach da sein. In Verbindung mit der rohen und zarten Energie des Augenblicks zu kommen.
"Die Wahrheit", so sagte ein alter chinesischer Meister, "ist weder dies noch das. Die Wahrheit gleicht einem gierigen Hund angesichts einer Schale siedenden Öls. Er kann das Öl nicht lassen, weil er zu gierig ist. Er kann es aber auch nicht auflecken, weil es zu heiss ist."
Wie gehen wir mit diesem Druck um? Gibt es etwas oder jemand, der mich ermutigt, Neugier für dieses unbekannte Terrain zu wecken und mich aufmuntert, erforschen und entdecken zu gehen?
Lass uns erforschen: Setz' Dich mit mir in einen bequemen Sitz. Bequem, bitte! So dass Du aufrecht , stabil und ohne Anstrengung sitzen kannst. Richte Deine Aufmerksamkeit auf Deinen Atem. Nimm' ihn wahr, wie er kommt und wieder geht. Horche ihm zu. Werde intim mit Deinem Atem! Bleib' bei der Übung für drei Minuten. Und immer, wenn der Geist abschweift, hole ihn wieder liebevoll zurück. Erforsche, entdecke! Konzentriere Dich nicht zuviel, aber auch nicht zuwenig. Erwarte nicht "Amerika zu entdecken" - erwarte nichts! In eben diesem ungewissen Moment findet sich unser Weisheitsgeist. Wir haben nichts zu verlieren auf diesem Terrain - wir können damit experimentieren, uns von richtig und falsch nicht beeindrucken zu lassen und uns in die Bodenlosigkeit hinein entspannen.
Da kann es schon vorkommen, dass Du Deiner eigenen Gehetztheit begegnest, Deiner Ungeduld, Deinem Zweifel über den Output dieser Entdeckungsreise. Zweifle. Und frage Dich: "Was mach ich hier eigentlich?" Nimm' wahr, dass Du ungeduldig auf etwas wartest, dass Dir gut tut, das sich gut anfühlt, das Dich befreit. Befreit von Angst, Sorge und der Ungewissheit. Was ist das, was meinst Du?
"Das, was Du suchst, sucht Dich!", meint Rumi.